I.
Was fing man nur mit derart viel Zeit an? David Bronstein konnte nicht von sich behaupten, die Pension sonderlich zu genießen. Sicher, gleich zu Beginn, als er mit Wirkung vom 1. Jänner 1949 in den Ruhestand versetzt worden war, da wähnte er sich im Besitz einer ungeahnten Freiheit. Er war gottlob gesund und konnte nun endlich machen, was immer er wollte. Ausstellungen besuchen, aufs Land fahren, all die Bücher lesen, zu denen er im Laufe von vier bewegten Jahrzehnten als Ermittler nie gekommen war. Ja, eine kleine Weile überlegte Bronstein sogar, selbst ein Buch zu schreiben. Interessante Fälle hatte er ja in seiner Laufbahn nicht zu wenige gehabt, doch über den ersten Absatz war er nie hinausgekommen. Irgendwann im Vorfeld der zweiten Nationalratswahlen der Zweiten Republik hatte er sich dann einen Kanarienvogel zugelegt, damit er wenigstens irgendeine Art von Ansprache hatte. Bronstein saß tagein, tagaus in seiner Wohnung in der Walfischgasse und fragte sich, wie es so weit mit ihm hatte kommen können. Eigentlich war es ihm nie gelungen, Freunde zu gewinnen, und von den alten Kollegen, von Pokorny, Cerny und den anderen war niemand mehr am Leben oder in Wien. So war es ironischer Weise sein letzter Chef, der Major Heinrich Dürmayer, zu dem noch ein loser Kontakt bestand. Dürmayer besaß ein markantes Faible für die Kunst, und so begleitete er Bronstein immer wieder einmal in ein Museum oder ins Theater. Und Bronstein ertappte sich bei der Erkenntnis, seine Tage ganz auf die Treffen mit dem ehemaligen Vorgesetzten auszurichten.
Dürmayers jüngster Vorschlag war allerdings überraschend gekommen. Es gäbe, so ließ dieser Bronstein wissen, eine Chorvereinigung namens “Jung-Wien”, die immer wieder einmal auftrete und eine, wie der Hofrat sich ausdrückte, recht gefällige Mischung verschiedenster Weisen zum Vortrage bringe. “Chorsingen? Also ich weiß nicht”, zeigte sich Bronstein skeptisch. “Das ist nicht so mein´s, weißt.” Dürmayer lächelte schmal. “Aber am Brahmsplatz damals, das hat dir ja auch g´fallen.” Bronstein erinnerte sich. Der Chor der Roten Armee hatte in Wien gastiert und dabei russische Volkslieder dargeboten. “Und wenn dir die Wolgaschiffer g´fallen, dann muss dir doch das Wienerische noch viel mehr zusagen. G´rad dir.” Bronstein nickte bedächtig. “Eigentlich hast recht. Außerdem, man muss ja von Zeit zu Zeit auch einmal was Neues ausprobieren, ned wahr?”
Dürmayers Lächeln wurde breiter. “Recht hast. Und wirst sehen, du wirst es nicht bereuen. Der Chor ist wirklich gut. Der ist schon für den Körner aufgetreten, und für den Kunschak auch. Und dem Figl haben s´ sogar ein Ständchen dargebracht.” Bronstein hob abwehrend die Hände. “Ich bin ja eh schon dabei. Brauchst mich gar nicht weiter überzeugen.” Die Darbietung sollte im “Wiener Konzerthaus” über die Bühne gehen, was Bronstein ein wenig ins Wanken brachte, schreckte er doch immer unwillkürlich angesichts der dort angebrachten Aufschrift zusammen, doch Dürmayer zog ihn rasch ins Innere, sodass er nicht länger darüber zu grübeln brauchte, weshalb man hierorts nur die “deutschen Meister” ehren sollte. Dürmayer hatte Karten ganz vorne im Parkett erstanden, und Bronstein ertappte sich bei dem Gedanken, ob diese Position überhaupt den vollen Hörgenuss würde garantieren können. Doch schon trat der Chor auf, und als die ersten Takte erklungen waren, konnte Bronstein zufrieden feststellen, seine Sorge erwies sich als unbegründet. Die folgenden zwei Stunden boten ein überaus abwechslungsreiches Programm. Auf Lieder, die er gut kannte, ja, die er beinahe hätte mitsummen können, folgten Stücke, die ihm gänzlich unbekannt waren. Dies erstaunte ihn umso mehr, als sämtliche dargebrachten Werke von weltberühmten österreichischen Komponisten stammten, von Mozart, Haydn, Schubert, Johann Strauß und Anton Bruckner, wie er dem Programmheft entnehmen konnte. Und je länger er den Weisen lauschte, umso mehr war er beeindruckt, ja nachgerade gefangen genommen von den perfekt gesungenen Harmonien, von der Anmut des Vortrags, von der berückenden Symbiose aus so vielen Stimmen. Beschwingt wie schon lange nicht mehr ging er zu später Stunde nach Hause und ertappte sich dabei, wie er immer wieder eine der Melodien aufgriff und leise vor sich hinpfiff. Dankbar dachte er an seinen ehemaligen Chef, der ihm einen wunderbaren Abend beschert hatte.
II.
Bronstein war eben dabei, seinen Kanarienvogel zu füttern, als sein Telefon läutete. Nach dem ersten Schrecken ob des unerwarteten Geräuschs fragte er sich, wer ausgerechnet seine Nummer gewählt haben konnte. “Sicher hör ich gleich falsch verbunden”, murmelte er, während er zum Apparat schlurfte. Schließlich beförderte er selbigen aus der Gabel. “Oberst Bronstein”, meldete er sich. “Servus, David, ich bin´s, der Heinz.” “Oha, Chef, was verschafft mir die Ehre? Wir sind doch erst für nächste Woche verabredet …” “Kannst du dich an den Chor erinnern, „Jung-Wien“, wo wir vorigen Monat in dem Konzert waren?” “Na sicher doch. Das war ja ein wunderschöner Abend! Ich bin jetzt noch ganz begeistert davon. Drei Tag´ lang hab ich die diversen Melodien vor mich hing´summt, überall, wo ich hinkommen bin, haben s´ schon geglaubt, ich bin meschugge. Dabei war ich einfach nur so … enthusiasmiert.” “Na, dann wird es dich vielleicht interessieren, was ich dir zu sagen habe. Bei denen haben s´ nämlich eingebrochen.” Bronstein war einen Moment lang sprachlos. “Eingebrochen? Was du ned sagst! Warum denn das?” “Das ist es ja, was die Sache so delikat macht. Der oder die Täter haben sich Zutritt zur Wohnung des Herrn Professor Lehner …” “Des Chorleiters”, vergewisserte sich Bronstein. “Genau. Der, der an dem Abend dirigiert hat”, ging Dürmayer bei Bronsteins Musikverständnis auf Nummer Sicher, “in dessen Wohnung in der Hippgasse sind die also eingestiegen. Und das Bemerkenswerte daran ist, sie haben dort praktisch nichts mitgehen lassen, obwohl es etliche Wertgegenstände gegeben hätte, die ein hübsches Sümmchen eingebracht hätten.” “Also fehlt nicht einmal was?” “Doch”, entgegnete Dürmayer, “das ist ja das Delikate. Sie haben genau eine Partitur entwendet. Eine Originalpartitur.”
Auf Bronsteins Gesicht spiegelte sich eine ungläubige Miene. “Eine Partitur? Wer fladert denn ausgerechnet so etwas? Wenn´s nicht gerade ein Mozart oder ein Beethoven ist natürlich, weil so etwas könnte man klarerweise gewinnbringend an irgendwelche Sammler …” “Ich weiß nicht, wer diese Partitur gestohlen hat”, unterbrach Dürmayer Bronsteins Gedankenausflug, “deshalb bin ich ja zu dir gekommen. Könntest du nicht ein bisserl … nun, ermitteln?” Bronstein gab sich seinen ehemaligen Chef gegenüber erstaunt. “Wieso wendet ihr euch denn nicht einfach an die normale Exekutive? Die ist doch für solche Fälle …” “Geh, David. Muss ich dir wirklich sagen, dass unsere werten Kollegen sich für eine solche Sache keinen Haxen ausreißen werden? Die reagieren garantiert so wie du eben: a Partitur, na und? Aber was die nicht wissen, ist, dass es sich dabei um die Originalpartitur von `Ich hab dich lieb, mein Wien´ handelt. So etwas wie unsere heimliche Landeshymne, wennst verstehst, was ich meine. Der Herr Professor Lehner hat dieses Lied mitten im Krieg komponiert. Die Bomben von die Amis sind ihm am Kopf g´fallen. Die Nazis haben rotiert, na, weißt eh, das volle Chaos halt. Kein Wunder, dass der Herr Professor gerade diesem Lied einen besonderen Stellenwert einräumt.” Dürmayers Gegenüber kam ins Sinnieren. “Also, wenn ich jetzt ganz ehrlich bin, dann hab ich eigentlich eh nix zu tun. So gesehen wär´s eine Abwechslung.” Dem Hofrat war die Erleichterung anzusehen. “Du wirst sehen, David, du wirst es nicht bereuen.” “Wenn ich sie wieder auftreib´, die Partitur, dann müssen die mir aber ein Ständchen darbringen, das sag ich dir”, replizierte Bronstein grinsend.
Nachdem er die Adresse erhalten hatte, wo sich der Chor zur Probe zu treffen pflegte, setzte sich der Oberst in Bewegung. Keine Stunde später war er vor Ort eingetroffen. Durch die Doppeltüre hörte er ein vielstimmiges Lied, welches ihm verriet, dass der Chor bereits in Aktion getreten war. So leise wie es ihm nur irgend möglich war, öffnete er die Pforte und schlüpfte geräuschlos in den Saal, wo er sich gleich in der letzten Reihe niederließ, unbemerkt von den Sängerinnen und Sängern, aber auch vom Professor selbst, der zu Bronsteins nicht geringer Überraschung am Klavier saß. “Aus! Aus! Aus!”, brüllte Lehner plötzlich, und unwillkürlich zuckte Bronstein zusammen. War er entdeckt worden und hatte so als ungebetener Gast den Zorn des Chorleiters auf sich gezogen? Gleich darauf aber stellte er erleichtert fest, dass der Unmut Lehners nicht ihm galt. “Wie oft habe ich das jetzt schon gesagt! Hier ist die Phrasierung von ganz besonderer Bedeutung. Gleich noch einmal, bitte.” Der Chor setzte von Neuem an und bot, wie Bronstein fand, eine makellose Darbietung. Doch Professor Lehner schien anderer Ansicht zu sein. Kaum hatte die Sängerschaft wieder jenen neuralgischen Melodiebogen erreicht, als Lehner abrupt zu spielen aufhörte und mehrmals den Klavierdeckel zuschlug. “Insubordination ist das”, rief er wütend, “Martha! Das ist doch nicht die Möglichkeit.” “Aber Herr Professor, ich”, wagte eine junge Dame in der zweiten Reihe schüchtern Widerspruch. Weiter als bis zum “ich” kam sie jedoch nicht. “Ich will gar keine Rechtfertigung hören! Du trittst jetzt sofort vor und singst das Stück solo. Und prontissimo, wenn ich bitten darf.”
Fasziniert sah Bronstein von seinem Platz aus, wie die Frau tatsächlich aus der Reihe trat und das Stück nun ganz alleine vortrug. Für den Oberst war evident, dass sie eine vollkommen fehlerlose Darbietung auf die Bühne brachte. Doch würde der gestrenge Herr Professor das auch so sehen? Gespannt fixierte Bronstein den Chorleiter, der hinter seinem Klavier aufmerksam jedem einzelnen Ton lauschte. Als besagte “Martha” geendet hatte, herrschte für einen Moment lang vollkommene Stille. “Siehst, Martha, du kannst es ja. Warum nicht gleich”, kam es endlich versöhnlich von Lehner. “So”, wurde dieser jedoch sofort wieder aufgeräumt, “und jetzt alle in derselben Qualität wie das Fräulein Oktabec, wenn ihr die Güte haben würdet.” Lehner gab den Takt vor, und der gesamte Chor wiederholte das eben gehörte Stück. “Na bitte, geht doch.” Bronstein registrierte allgemeine Entspannung. “Aber wenn ihr glaubt, deswegen sitzt das jetzt, dann befindet ihr euch im Irrtum. Das proben wir jetzt solange, bis ich jeden von euch mitten in der Nacht aufwecken kann und ihr mir im Schlaf jede Note glockenrein darbietet. Nur, damit das jetzt klar ist.” Offenbar war die Probe zu ihrem Ende gekommen, denn Lehner begann, die Notenblätter einzusammeln, während sich die Mitglieder des Chores aus ihrer Formation lösten und der hinter der Bühne befindliche Garderobe zustrebten. Bronstein erhob sich und marschierte durch den Mittelgang des Auditoriums auf den Professor zu. “Herr Professor Lehner, der Herr Hofrat Dürmayer schickt mich. Ihnen soll eine sehr wichtige Partitur entwendet worden sein.” Lehner wirbelte herum und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen. “Nicht so laut, lieber Herr, das müssen nicht alle gleich wissen!” Bronstein schwieg beschämt. “Warten S´ kurz, ich bin gleich bei ihnen”, beschied ihm Lehner, ehe er seiner Sängerschaft folgte. Unschlüssig stand der pensionierte Oberst im Raum und blickte versonnen in den Zuschauerbereich. Er konnte nicht an sich halten, hob die rechte Hand theatralisch empor. “Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Heiße Magister, heiße Doktor gar, und ziehe schon an die zehen Jahr’ herauf, herab und quer und krumm meine Schüler an der Nase …” Ein schütterer Applaus ließ ihn jäh verstummen. Der Herr Professor war zurückgekommen und hatte offenbar Bronsteins letzte Worte gehört. “Wenn S´ das jetzt auch noch korrekt singen könnten, wären S´ bei mir richtig. Sonst aber müssten S´ sich ans Reinhard-Seminar wenden.” Trotz der angespannten Situation umspielte ein schmales Lächeln die Lippen Lehners. Gleich darauf aber wurde der Chorleiter sachlich. “Schauen Sie, Herr Bronstein, ich versteh das ja alles selbst nicht so ganz. Diese Partitur hat ja nur für mich persönlich einen wirklichen Wert. Ich bin kein Mozart oder Schubert oder Haydn, meine Melodien versprechen keinen schnellen Reichtum auf dem internationalen Schwarzmarkt. Umso weniger kann ich mir vorstellen, weshalb jemand in meine Wohnung eingebrochen ist, um genau diese eine Partitur zu stehlen.” “Ich habe gehört, diesem Lied kommt eine besondere Bedeutung zu?” “Nun, vielleicht noch nicht jetzt. Aber möglicher Weise bald. Es gibt Bestrebungen, `Ich hab dich lieb, mein Wien´ zu unserer offiziellen Landeshymne zu machen. Sie wissen schon, so wie die Kärntner ihr `Dort, wo Tirol an Salzburg grenzt´ haben und die Tiroler ihr “Zu Mantua in Banden´, so wäre es meiner Ansicht nach unabdingbar, dass auch unsere herrliche Heimatstadt Wien eine Hymne ihr eigen nennen könnte.” “Eben das von Ihnen verfasste `Ich hab dich lieb, mein Wien´?” “Genau.” Bronstein kraulte gedankenverloren seinen Kinnbart. Das heißt, es gibt zwei Möglichkeiten, weshalb Ihnen die Partitur entwendet wurde. Entweder will jemand verhindern, dass es überhaupt eine Landeshymne gibt, oder jemand will Ihnen persönlich schaden, weil er, nur so zum Beispiel, ein anderes Lied zur Landeshymne machen möchte.” Lehner lehnte sich zurück und lächelte abermals. “Ohne mir selbst zu sehr schmeicheln zu wollen, aber ich denke, wir können getrost von der zweiten Option ausgehen. Denn eine Landeshymne verhindert man nicht, indem man Partituren stibitzt. Das wäre töricht.”
Der Oberst nickte. “Ja, das sehe ich auch so. Gehen wir also davon aus, dass der Dieb Ihnen ganz persönlich schaden wollte. Da hätte ich nun einige Fragen an Sie: wann haben Sie die Partitur zuletzt gesehen, sprich, seit wann vermissen Sie sie? Wer hat aller Zugang zu Ihrer Wohnung, oder anders formuliert, wer weiß überhaupt, wo Sie wohnen? Und drittens: Ist Ihnen in jüngster Zeit etwas aufgefallen? Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet? Ist Ihnen jemand gefolgt? So, in der Art, meine ich.” “Nicht, dass ich wüsste”, entgegnete der Professor, “aber ich achte im Allgemeinen auch nicht auf derlei Dinge. Meine Adresse hingegen kann jeder herausfinden, der will. Ich stehe im Meldeverzeichnis ebenso wie im Telefonregister. Das ist also kein großes Geheimnis. Und was die Partitur anbelangt, so habe ich sie vorgestern am Abend noch gesehen, als ich diverse Materialien daneben deponiert habe. Der Diebstahl kann also nur gestern im Laufe des Tages erfolgt sein.” “Wann, Herr Professor, haben Sie gestern ihre Wohnung verlassen?” “Kurz nach sieben. Ich gab gestern Musikunterricht an der Albertgasse. Also am dortigen Gymnasium. Am Nachmittag habe ich dann noch Musik an der Lehrerbildungsanstalt in der Hegelgasse gelehrt, und gegen 18 Uhr war ich zu Hause. Das Fehlen der Partitur bemerkte ich etwa eine Stunde später.” Das heißt, der Dieb hatte rund zehn Stunden Zeit, seinem schändlichen Handwerk nachzugehen, rekapitulierte Bronstein für sich. Und er musste ein verwegener Mensch sein, denn ein Einbruch am helllichten Tage war nicht jedermanns Geschmack. Untertags, so wusste Bronstein aus seiner langjährigen Erfahrung, musste ein Dieb besonders auf der Hut sein, denn überall gab es neugierige Augenpaare, die einen Ganoven schnell ausfindig machten. Mutmaßlich also hatte sich der Einbrecher irgendwie getarnt, um eben nicht gleich aufzufallen.
“Und wissen Sie, Herr Bronstein”, fuhr Lehner in der Zwischenzeit fort, “der Diebstahl kommt zur ungünstigsten Zeit. In ein paar Tagen haben wir ein ganz großes Konzert in Schönbrunn. Wir werden dabei sogar Kostüme aus dem Biedermeier tragen und vor ausgesucht erlauchtem Publikum singen. Gleich darauf geht es auf eine Tournee nach Südfrankreich, und deshalb wäre die Partitur gerade jetzt von immenser Wichtigkeit für uns. Wir wollen dieses Lied natürlich ganz besonders und vorrangig darbringen.” Der Professor zögerte einen Augenblick, ehe er fortfuhr: “Die Originalpartitur ist in jeder Hinsicht ein Orignal.” “Wie darf ich das verstehen?”, fragte Bronstein. “Ganz einfach”, antwortete Lehner, “es ist das einzige Exemplar, es gibt keine Abschriften oder Kopien oder dergleichen.” Die Augen des Obersts weiteten sich: “Das heißt, wenn wir diese Partitur nicht wiederbeschaffen können, ist das Lied verloren?” Lehner machte eine vage Geste. “Natürlich sollte es mir möglich sein, die Melodie ident zu rekonstruieren. Aber das wäre natürlich eine Mühe, derer ich mich gerne entziehen würde, wenn Sie verstehen, was ich meine.” Eifrig nickte Bronstein. “War irgendetwas an Ihrer Wohnungstür anders, als Sie gestern nach Hause kamen? Das Schloss beschädigt? Das Türholz zerkratzt? Ein Fenster aufgedrückt?” “Nein. Nichts dergleichen. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann ginge ich davon aus, der Täter hatte einen Schlüssel.” “Und wäre das möglich?” Bronstein sah den Professor erwartungsvoll an. “Ganz und gar nicht”, wies dieser Bronsteins Insinuation brüsk zurück, “nur ich habe einen Schlüssel. Sonst niemand.” “Na ja”, lenkte der Oberst ein, “ich nehme einmal an, Sie sind jetzt nicht unbedingt ein Experte in Sachen Einbruch. Vielleicht erlauben Sie mir, dass ich mir das einmal persönlich ansehe. Eventuell gibt es ja doch Spuren, die Sie übersehen haben.” “Bitte sehr. Wenn Sie Zeit haben, können Sie mich sofort begleiten. Ich bin ohnehin am Weg nach Hause.”
Eine halbe Stunde später begutachtete Bronstein eingehend die Wohnungstür des Chorleiters und gestand nach geraumer Zeit der Inspektion, dass diese keineswegs gewaltsam geöffnet worden war. Dennoch zeichnete sich ein leichter Glanz auf seinen Augen ab. Er hob beschwörend den Zeigefinger. “Das heißt aber noch gar nichts, Herr Professor”, statuierte er, “ich habe da so eine Idee. Gehen S´ ruhig schon in Ihr Reich, Herr Professor, ich bin gleich wieder bei Ihnen.” Lehner hob zwar die Augenbrauen leicht an, nickte dann aber und begab sich in seine Wohnung. Bronstein hingegen stieg die Treppen abwärts und pochte anschließend an die Tür der Hausmeisterwohnung.
III.
Es dauerte eine hübsche Weile, bis ihm aufgetan wurde. Eine leicht bucklige Frau in ihren späten Fünfzigern öffnete und fixierte den pensionierten Polizisten mit einem skeptischen Blick. “Was wollen nachher Sie?”, kam es stählern aus deren Mund. “Oberst David Bronstein. Sicherheitsbüro.” Bronstein befand, es konnte nicht schaden, sich in dieser doch für das Land Wien so wichtigen Angelegenheit noch einmal mit alten Würden zu bestallen. Die Hausmeisterin aber blieb skeptisch. “Sand Se ned a Wengerl z´ oid fia an Kiwara?” “Möglicherweise, Gnädigste, sind Sie ein wenig zu qualifiziert für Ihren Posten. Und doch dienen wir beide an jener Stelle, auf die uns das Schicksal gestellt hat”, bemühte sich Bronstein um einen Anhauch Altwiener Charmes. Tatsächlich hatte er damit den richtigen Ton getroffen. Die Concierge fuhr sich mit ihrer Rechten an den Kopf und richtete ihre Frisur. “Meinen S´?”, fragte sie nach. “Aber sicher doch, meine Beste”, flötete Bronstein in anheimelndem Bariton. “Sie sind mir ja ein ganz ein Schlimmer, Herr Inspektor”, kam es schließlich eine Spur zu schrill aus dem Mund der Frau, die sich zwischenzeitlich um eine möglichst gerade Haltung bemühte. “Ihnen kann man ja gar nix abschlagen. Also, Herr Kommissar, was wollen S´ denn wissen von mir?” “Schau´n Sie, Gnädigste. Der Herr Professor von oben, der hat den Verdacht, dass ihm jemand etwas aus der Wohnung g´fladert hat. Und jetzt ist die Frage, ob Sie vielleicht was g´hört oder g´seh´n haben gestern. Weil, das sagt mir meine langjährige Berufserfahrung, einer Hausmeisterin entgeht so schnell nix. Weil die ist immer auf dem Posten.” Dabei ließ der Oberst seine Zähne sehen. “Wenn ´s weiter nix is, das is a leichte Übung. Ein E-Werkler war gestern da. So gegen zehne wird´s g´wesen sein. Der hat in der Wohnung vom Herrn Professor irgendwelche Leitungen überprüfen müssen. Wegen der Gefahr von einem Stromstoß oder so. Na ja, hab ich ihn …” “… mit dem Generalschlüssel reingelassen”, vervollständigte Bronstein den Satz der Hausbesorgerin. Er sah seinen Verdacht eindrucksvoll bestätigt. “Wissen S´ vielleicht, wie lange der Elektriker oben war? Bei ihm geblieben sind S´ ja ned zufällig, oder?” “Na hören S´! Ich bin ja keine neugierige Nasen! Sowas g´hört sich ja nicht, dass man in fremden Wohnungen umadumsteht! Nein, nein, ich bin gleich wieder runter daher. Hab derweil Radio g´hört. Den Sender Rot-Weiß-Rot, weil das Zeug von der RAVAG, das kannst dir ja ned anhören, ned wahr? Ich hab g´wartet auf `Vergnügt um elf´. Das is mei Lieblingssendung.” “Aha. Das heißt, Sie wissen ned zufällig, wann der Elektriker wieder gangen ist?” “Natürlich. Die … wie heißt das? … Siegnäschn, glaub ich, … von meiner Sendung is grad g´rennt, da hat er klopft und g´sagt, er ist fertig. Ich war´s aa. Weil statt dass i meine Lieblingslieder hören hab dürfen, hab i aufehatschen kennan und die Wohnung vom Herrn Professor wieder zusperren miassn. A Heidenplag´, kann ich Ihnen sagen.” “Sie haben mein vollstes Mitgefühl, Verehrteste”, sagte Bronstein mit einem unüberhörbar ironischen Unterton, welcher der Concierge gleichwohl dennoch entging. “Das heißt, Sie können mir nicht zufällig sagen, in welche Richtung er gegangen ist?” “Gangen? Gangen?” Völlig überraschend wurde die Frau laut. “Der hat mir mit seiner Tschesn mei ganzes Liadl verhunzt.” Bronstein wurde hellhörig. “Wie meinen S´ das jetzt?” Die Hausbesorgerin stieß gepresst Luft aus, sank dann wieder in die gekrümmte Haltung von zuvor zurück. “Ich hab´ mir denkt, mein Liadl kann ich mir schon noch anhören, wegen die drei Minuten wird jetzt auch g´rad´ kein Galerist beim Herrn Professor eineschleichen und dem seine Ölschinken abstauben. Aber gleich darauf hat´s da draußen vor mei´m Fenster einen mordstrum Tuscher g´macht, dass i glaubt hab´, das ganze Haus fallt z´samm.” “Ja wie das denn?” Bronstein hielt den Atem an. “Der ist auf a Zündapp g´stiegen und hat die Maschin´ ang´worfen. Des hat einen Heidenlärm g´macht, kann ich Ihnen sagen. Wahrscheinlich eine Fehlzündung oder so …” “Donnerwetter! A Maschin?” “Ja, Zündapp. Sag ich ja. Mit solche Kraxn macht mir keiner was vor. Mein Seliger, der was im Krieg blieben is, war Mechaniker. Der hat selber so eine g´habt. 200er. Wie mein Erwin.” Bronstein unterdrückte einen Freudenschrei. Mit so viel Glück hatte er keineswegs rechnen dürfen. Nicht nur, dass er praktisch eine Augenzeugin gefunden hatte, diese erwies sich sogar als die entscheidende Stichwortgeberin. Euphorisch bedankte er sich bei der Frau, die ihm noch ungefragt einige Details verriet, ehe er sich eilends aus dem Haus begab.
Er marschierte direkt in die nächste Gastwirtschaft und ließ sich dort den Weg zum Telefon zeigen. Keine Minute später war er mit Gustav Hagenauer vom Wiener Verkehrsamt verbunden. “Hörst, Gustl, ich brauchert deine Hilfe. Ich such den Halter von einer weißen Zündapp. 47er Baujahr. Der Besitzer müsste so um die 30 sein.” Während er auf den Rückruf des ehemaligen Kollegen wartete, bestellte sich Bronstein einen Staubigen und hoffte inständig, die Zahl der diesbezüglichen Motorräder mochte in Wien überschaubar sein. Doch die Zeit verging, und der Rückruf blieb aus. Das schien nichts Gutes zu bedeuten. In Bronstein stieg die Nervosität, gleichzeitig machte sich in ihm Enttäuschung breit. Da schien er der Lösung des Falles schon so nahe gewesen zu sein, und jetzt drohte sich der entscheidende Hinweis als Sackgasse zu erweisen. Wütend bestellte er ein weiteres Viertel.
“Sand Se da Herr Oberst?”, wollte der Wirt plötzlich wissen. Eilig bejahte Bronstein. “Da warat a Anruf für Sie.” Bronstein hatte es gar nicht läuten hören. Dennoch eilte er sofort zum Apparat. “Gustl?”, fragte er mit nicht geringer Bangigkeit in seiner Stimme. “Wer sonst”, kam es gallig zurück. “Tut mir leid, David. Es hat so lang dauert, weil i ned glauben hab wollen, dass es in Wien echt nur zwei weiße Zündapps Baujahr 47 gibt. Aber bitte, das is ja a Importware, da kommt anscheinend ned jeder ran. Wurscht. Legal gibt´s jedenfalls tatsächlich nur die zwei.” “Und wem g´hören die?” “Die eine hat ein Alois Hofrichter, Jahrgang 1904, wohnhaft in Wien 10, Tolbuchinstraße 12, und die andere ein Felix Weinhäuptl, Jahrgang 1919, wohnhaft Lerchenfelder Gürtel 22.” Bronstein dankte Hagenauer überschwänglich und sicherte diesem zu, sich demnächst mit einem Doppler bei ihm einzufinden. Dann hängte er den Hörer in die Gabel, zahlte seine Konsumation und machte sich auf den Weg.
Vom Alter her schien Weinhäuptl jedenfalls mehr zu passen als Hofrichter. Zudem befand sich dessen Adresse in Gehweite. Bronstein richtete seinen Krawattenknopf, dann begann er kräftig auszuschreiten.
IV.
Schon auf den allerersten Blick war sich Bronstein sicher, in Weinhäuptl den vermeintlichen Elektriker vor sich zu haben. Die Beschreibung, die ihm die Hausbesorgerin geliefert hatte, wies diese als eine überaus genaue Beobachterin aus. Weinhäuptl jedoch sah sein Gegenüber nur erwartungsvoll an. “Sie wünschen?” “Herr Weinhäuptl, wie ich vermute?” “Sicher! Wer sonst?” “Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?” “Samma in der Schul´ oder was?”, wurde Weinhäuptl unwillig. “Was geht das Sie an, was ich beruflich mach´?” Bronstein starrte den Mann wortlos an. Dieser lenkte schließlich ein. “Lehrer bin i. Auch wenn ich derzeit keinen Posten hab´. Aber das ist ned meine Schuld. Das liegt am System. Die Lizenzparteien schnapsen sich ja alles unter sich aus, da hat unsereins ja von vornherein keine Chance ned. Aber noch einmal: was geht Sie das an?” “Ach, ich frag mich nur, ob Sie vielleicht auch als Elektriker tätig sind. Gestern zum Beispiel. In der Hippgassen.”
Noch während Bronstein seinen Satz vervollständigte, wurde Weinhäuptl bewusst, dass er aufgeflogen war. Mit einem wilden Blick, der an Panik grenzte, wollte er sich an Bronstein vorbei ins Stiegenhaus drängen, doch Bronstein, ein solches Verhalten vorhersehend, stellte Weinhäuptl blitzschnell ein Bein, sodass dieser ins Stolpern kam und schließlich der Länge nach hinfiel, um sodann benommen liegen zu bleiben. Mit für sein Alter bemerkenswerter Behändigkeit wuchtete Bronstein den Übeltäter hoch und schleifte ihn ins Innere der Wohnung. “Also”, schnarrte er, “wo ist die Partitur?” Matt deutete Weinhäuptl auf seine Kredenz. “Im Besteckladl. Ganz obenauf.” Bronstein ging, den Mann nicht aus den Augen lassend, auf das Möbelstück zu, öffnete die avisierte Lade und fand tatsächlich, was er suchte. Eilig nahm er das wertvolle Stück an sich. Dann sah er Weinhäuptl mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. “Sie sand aber echt ein fester Depp! Warum um Himmels Willen machen S´ denn so was?” “Der Lehner hat mein Leben zerstört”, kam es weinerlich zurück. “Na dafür schauen S´ aber noch ganz lebendig aus, Weinhäuptl. Wenn wer Ihr Leben ruiniert hat, dann waren S´ das schon schön selber. Mit der Aktion da zum Beispiel.” “Aber was wissen denn Sie”, replizierte der Mann trotzig, “für alles, was schiefg´rennt is in mein´ Leben, tragt der Lehner die Verantwortung.” Bronstein griff nach dem zweiten Sessel und setzte sich Weinhäuptl gegenüber. “Nicht, dass es Ihr Tun rechtfertigen würde, aber neugierig bin ich jetzt schon. Was hat der Herr Professor denn getan, dass Sie gar so grauslich sind zu ihm.”
“Das hat schon unmittelbar nach dem Krieg ang´fangen. Da hat der Herr Pro… der Lehner einen Chor zusammeng´stellt. Und ich hab mich dafür beworben, weil ich hab´ eine wundervolle Singstimme. Das wird ihnen jeder bestätigen.” Weinhäuptl nickte eifrig. “Wirklich. Meine Mutter, meine Tant´, die Oma. Alle! Alle sagen, ich sing´ wie ein Lercherl.” Der Blick des Mannes brach nach rechts oben aus, als sähe er dort in der Ecke des Plafonds jene ferne Szene wieder, die für ihn offenkundig eine grobe Insultierung bedeutet hatte. “Lasst mich der Lehner vorsingen. Einfach so. Ohne Vorbereitung. Ein Wahnsinn normal, ned! Hab ich mich g´sammelt und ang´fangen. Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heiter, hoppsassa. Hat der mich ang´schaut, als wär´ ich ein Aussätziger. Dabei war ich wirklich, wirklich gut, zumal unter solch bedrückenden Bedingungen. Das war ja praktisch wie bei einer Prüfung, ned wahr. Und anstatt dass er einfach nur applaudiert und mich in seinen blöden Chor aufnimmt, fragt der mich doch glatt, ob ich weiß, worin das Wesen des Chorsingens besteht.” Weinhäuptl unterstrich seinen letzten Satz durch eine angewiderte Miene.
Bronstein empfand diese Frage keineswegs als indiskutabel, doch ließ er sich nichts anmerken, um den Gesprächsfluss des Mannes nicht zu unterbrechen. “Na”, fuhr dieser fort, “ich hab die Frage gar ned verstanden. Ich mein, singen ist singen, ned wahr. Sagt mir der Lehner, beim Chor geht´s darum, dass jeder einzelne zu einem harmonischen Ganzen beiträgt. Da gehe es nicht darum, dass sich einer auf Kosten der anderen profiliert. Und wenn ich mit so einer Arie bei ihm vorsinge, dann verheißt das hinsichtlich meiner Einstellung nichts Gutes. Pffft!” Weinhäuptl machte eine wegwerfende Geste mit der rechten Hand. Dann fixierte er Bronstein mit flackerndem Blick: “Aber wissen S´, was das Ärgste war? Macht der mir doch glatt zum Vorwurf, ich hätte mich nicht gründlich vorbereitet!” Abrupt schlug er mit der Faust auf den Tisch. “Woher er denn das wissen will, hab ich ihn g´fragt. Und wissen S´, was er mir drauf sagt? Wissen S´ das?” Da Weinhäuptl nicht fortfuhr, sondern offenbar wirklich eine Antwort von Bronstein erwartete, schüttelte dieser müde den Kopf. “Sagt der mir doch glatt, es heiße `stets lustig, heißa, hoppsassa´ und nicht `stets lustig, heiter, hoppsassa´. Sag ich, das ist doch wurscht, wie das heißt, es geht um meine Stimme. Und da hat dieser überhebliche Mensch nur den Kopf geschüttelt und gemeint, es gehe um die Gesamtheit der Einstellung. Und ich erweckte nicht den Eindruck, professionell an die Aufgabe heranzugehen. Es mangle mir an Hingabe und Uneigennützigkeit, und solche Leute könne er in seinem Chor nicht brauchen.”
Alles an Weinhäuptl schien zu beben. Bronstein machte sich erstmals Sorgen darüber, diesem Mann allein und unbewaffnet gegenübergetreten zu sein. Doch zu seinem Glück beschränkte sich das Rabaukentum seines Gegenüber auf weitere verbale Ausfälle, in denen er sich über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und jene Lehners im Besonderen beklagte. Schließlich verfiel er ihn brütendes Schweigen, doch Bronstein war sich sicher, der Mann hatte sich noch nicht alles von der Seele geredet. Tatsächlich fing Weinhäuptl nach einer Weile wieder zu sprechen an.
“Na, und wie das nix worden ist mit der Karriere als Sänger, da hab´ ich halt was anderes machen müssen. Bin ich Lehrer worden. Hab´ ich mich beworben in der Albertgassen drüben, weil das ist ja nicht weit von da, ned wahr? Und jetzt raten S´ einmal, wen die g´nommen haben? Den Lehner natürlich. Schon wieder den! Und jetzt sagen S´ mir einmal, ich hätt´ nicht jedes Recht, mich an dem zu rächen!” Dabei bemühte sich Weinhäuptl um ein entschlossenes Gesicht. Bronstein aber schüttelte nur resigniert den Kopf. “Ich bleib´ bei meiner Meinung. Sie sand a fester Depp!” “A Depp? A Depp?”, fuhr Weinhäuptl hoch, “Blödsinn! Wenn Sie mir ned auf die Schliche kommen wären, hätt´ ich den Lehner mit seinen eigenen Waffen schlagen können. Das wär´ mein größter Sieg worden. Stellen S´ Ihnen nur einmal vor: `Ich hab dich lieb, mein Wien´ wird wirklich Wiener Landeshymne, und überall steht dann mein Name, Felix Weinhäuptl. Weil der Lehner hätt´ ja gar nicht beweisen können, dass eigentlich er der Verfasser von dem Lied ist, ned wahr. Weil, das weiß ja ein jeder, dass der Lehner seine Noten alle hütet wie seine Augäpfel. Niemand darf Notenblätter mitnehmen, alle müssen alles auswendig lernen. Also hab ich mir gedacht, wenn ich ihm die Originalpartitur abnehm´, dann kann er nimmer beweisen, dass das Stück von ihm ist.”
“Weinhäuptl, ich bin mir sicher, das Lied ist in der Zwischenzeit zigmal aufg´führt worden. Jeder in der Branche kennt dessen Urheber. Sie sind offensichtlich nicht nur ein schlechter Sänger, Sie sind auch als Verbrecher ein ziemlicher Stümper. Und jetzt gemma.” Bronstein erhob sich, griff Weinhäuptl gekonnt unter die Achsel und hievte ihn hoch. Und als wäre dem verhinderten Chormitglied jetzt erst bewusst geworden, dass alles verloren war, sackte Weinhäuptl in sich zusammen und ließ sich willenlos von Bronstein mitnehmen.
Professor Lehner war die Erleichterung über die Wiederauffindung der Originalpartitur deutlich anzusehen. Er dankte Bronstein überschwänglich und fragte den Obersten, wie er sich ihm gegenüber erkenntlich zeigen könne. Bronstein stand für einen Augenblick unschlüssig da, dann hob er zu einer Antwort an. “Wissen S´ was, Herr Professor, letztlich ist ja nichts passiert, ned? Wenn S´ mir also einen Gefallen machen wollen, dann lassen S´ den Unglückswurm da rennen. Zeigen S´ ihn nicht an, weil der ist mit seiner Blödheit eh schon g´straft genug.” Und nach einer kurzen Pause: “Aber wenn Sie mir für das Konzert im Schloss noch zwei Karten für mich und den Herrn Hofrat besorgen könnten …” Dabei bemühte sich Bronstein um ein gewinnendes Lächeln. In welches Lehner einfiel. “Wenn´s weiter nichts ist.”
V.
Dürmayer hatte sich geschmeichelt gefühlt, als Bronstein ihn fragte, ob er ihn zum Konzert im Schloss Schönbrunn begleiten würde. Doch ließ er sich nicht lange bitte, zumal Bronstein darauf hinwies, dass er sich dergestalt ja nur bei seinem Chef revanchiere, habe dieser ihn doch erst auf “Jung Wien” aufmerksam gemacht. Und so saßen die beiden dann in wahrlich festlichem Rahmen an der Nordseite des Schlosses Schönbrunn, wo der Chor aus Anlass der Eröffnung der Wiener Festwochen sogar in Biedermeier-Kostümen auf die Bühne kam. Bronstein hatte erfahren, dass diese Idee erst kurz vor dem Konzert überhaupt aufgekommen war, weshalb sich die Mitglieder der Sangesvereinigung noch schnell beim Kostümverleih Ed. Witte auf der Wienzeile mit entsprechendem Gewand hatten eindecken müssen. Davon freilich merkte man nichts, alle Choristen waren perfekt ausstaffiert, als sie in beinahe militärischer Disziplin von links und von rechts auf die Bühne kamen und in traumwandlerischer Sicherheit einem fixen Platz zustrebten, sodass das gesamte Ensemble im Handumdrehen die vorgesehene Position eingenommen hatte. Und schon trat Professor Lehner an die Dirigentenstelle.
Der Vortrag begann mit einer Hymne, die Bronstein nicht zuordnen konnte, doch kannte er das folgende Stück, das fraglos aus Haydns “Schöpfung” stammte. Ihm fiel auf, dass alle Künstler die Arme hinter dem Rücken verschränkt zu haben schienen und fragte sich, ob dies eine besondere Technik war, um aus dem Brustkorb mehr Volumen herauszuholen. Für einen Augenblick überlegte er, diese Frage an Dürmayer weiterzureichen, doch blickte dieser so verzückt auf die Bühne, dass Bronstein darauf verzichtete, ihn zu stören. Und tatsächlich nahm das nun dargebrachte “Ave Maria” auch Bronstein sofort gefangen, sodass er nicht länger seinem Gedanken nachhing, sondern sich gleichfalls gänzlich der Musik hingab.
In der Pause besorgte Bronstein für sich und seinen Chef eine Erfrischung. Sie genossen die milde Frühlingsluft und blickten versonnen auf das Schloss hin. “Ich hab´ g´hört, die fahren auf eine Tournee nach Frankreich”, begann Dürmayer. Bronstein vermochte dies zu bestätigen. “Ja, sogar mit dem Orchester der Wiener Symphoniker”, fügte er hinzu. Dürmayer lächelte. “So gut, wie die sind, sollten wir sie in den diplomatischen Dienst stellen, da bekämen wir den Staatsvertrag wahrscheinlich wesentlich schneller.” “Ja”, nickte Bronstein, während sie sich wieder zu ihren Sitzen begaben, da der Chor, der angesichts des nun folgenden Programms, das aus Polkas und Walzern bestand, in resche Dirndl und Trachten gekleidet war, wieder der Bühne zustrebte, “es gibt nichts Verbindenderes als die Musik. Die muss man einfach lieb haben.” “So wie unser Wien”, schloss Dürmayer, dafür ein zufriedenes Nicken Bronsteins erntend. ***
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